Theaterpremiere

Nackte und Nazis als große Oper auf der Grillobühne

| Lesedauer: 4 Minuten
Choreografie zwischen Brammen, die nicht von ungefähr ans Holocaust-Mahnmal erinnern. Hier mit Jens Winterstein (als Johannes von Essenbeck), Ines Krug (Sophie von Essenbeck), Stefan Diekmann (Hauptsturmführer von Aschenbach), Stefan Migge  (als  Friedrich Bruckmann).

Choreografie zwischen Brammen, die nicht von ungefähr ans Holocaust-Mahnmal erinnern. Hier mit Jens Winterstein (als Johannes von Essenbeck), Ines Krug (Sophie von Essenbeck), Stefan Diekmann (Hauptsturmführer von Aschenbach), Stefan Migge (als Friedrich Bruckmann).

Foto: Martin Kaufhold

Essen.   Jan Neumann macht aus dem Visconti-Film „Die Verdammten“ beeindruckendes Theater: „Der Fall der Götter“ ist angelehnt an die Krupp-Geschichte.

Der Beifall begann schüchtern nach der Premiere von „Der Fall der Götter“. Der wahrscheinlichste Schluss auf die Befindlichkeit des Publikums ist wohl dieser: Die Zuschauer im Grillotheater mussten ihre Überwältigung abschütteln. Regisseur Jan Neumann hatte sie die – soll man das sagen? – Machtergreifung spüren lassen – mit bodenlagen Hakenkreuzfahnen unter blutrotem Licht und Darsteller in SS-Uniform. Und mit einem im Befehlston aus dem Off gesprochenen quälend langsamen Finale, das die Unterwerfung der Industriellendynastie derer von Essenberg unter das Hakenkreuz vollendet – und ausnahmsweise erzählt statt inszeniert wird.

Funken und Feuerschweife

Knapp drei Stunden zuvor hatte die Bühnenübersetzung des Visconti-Films „Die Verdammten“ mit ebenso starken Bildern begonnen: Funken, Feuerschweife, Lichtblitze, Grollen und Donner: In Stahlgewittern gewissermaßen beginnt Neumann die Geschichte der Industriellenfamilie derer von Essenbeck zu erzählen. Patriarch Joachim von Essenbeck schraubt sich majestätisch aus dem Bühnenboden des Stahlwerks – im blau-weißen Königshermelin, um den in den kommenden Stunden gerungen wird, ehe er durch die Hakenkreuzfahne ersetzt wird (Kostüme Nini von Selzam).

Die Familiengeschichte, die lose an die von Firma und Familie Krupp angelehnt ist, beginnt. Sie dient eher als Schablone, in deren Hintergrund sich der Weg zur Macht der Nazis abspielt – sie muss auf Reichstagsbrand und Röhm-Affäre reagieren, die Familien müsste einen Weg finden, sich zum Nationalsozialismus zu verhalten, verstrickt sich aber stattdessen in eigene Machtspiele.

Neumann ersetzt Viscontis Dreharbeiten durch die Drehbühne, die fast pausenlos rotiert und zusammen mit den riesigen Stahlbrammen (Bühne Cary Gayler) zweierlei ermöglicht: eine beständig wechselnde Choreografie der Machtspiele des Essenbergschen Familienclans und ein moderiertes Eingehen auf die einzelnen Szenen und Gestalten. Es beginnt ein Intrigenstadel, der bei einer sehr reduzierten Bühne mit wenigen, mächtigen Requisiten und eindrucksvollen Licht- und Tonspielen aufwartet.

Wenn man der Inszenierung einen Vorwurf machen wollte, wäre es jener, der vor knapp 50 Jahren auch dem Visconti-Film gemacht wurde: den Aufstieg der Nazi-Diktatur zur großen Oper zu stilisieren.

Dem gewohnt stark aufspielenden Stefan Diekmann als Hauptsturmführer von Aschenbach ist es vorbehalten, zarte, fast versteckte Hinweise aufs Hier und Jetzt zu geben. Mal kauert er fast in einer Yogahaltung als menschliches Hakenkreuz an einer der Brammen, mal liest er aktuell klingende Segmente aus „Mein Kampf“ oder moderiert beifallheischend ins Publikum, dass es mit dem Egozentrismus in unserer Gesellschaft doch nicht weitergehe und einfach mal wieder mehr Wir-Gefühl herrschen müsse.


Doch die optische Überwältigung, verstärkt durch die klug dosierte Musik von Thomas Osterhoff, soll nicht schmälern, dass das Essener Ensemble die äußerst herausfordernden Rollen mit Bravour meistert. Allen voran Alexey Ekimov, der vom durchgeknallten Transvestiten über den Kinderschänder und Inzesttäter (beides wird mit schmerzhafter Deutlichkeit und drastischer Nacktheit gezeigt) hin zum Machtmenschen eine erschütternde Metamorphose durchlebt und miterleben lässt.

Kaum weniger eindrucksvoll ist die Leistung von Ines Krug, die dessen Mutter Sophie von Essenbeck verkörpert und Stefan Migge. Der starke Dritte in diesem (scheinbaren) Bündnis, das am Ende zerfällt, ist Stefan Migge als Friedrich Bruckmann, der fast gegen seinen Willen zur Macht getrieben wird und sich so dem Untergang weiht.

Fazit: Eine so mächtige Inszenierung, das sie beim Publikum beinahe Ohnmachtsgefühle hinterlässt.

>>>ACHT WEITERE AUFFÜHRUNGSTERMINE

Weitere Termine im Grillo-Theater: am 26. April, am 4., 5., 11. und 30. Mai, 13 und 16. Juni jeweils 19.30 Uhr, am 6. Mai um 16 Uhr – Kinder werden parallel zur Aufführung betreut), Kartentelefon: 0201/8122200, www.theater-essen.de

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