Konzert

HAGIOS – Kann man den Frieden herbeisingen, Herr Burggrabe?

| Lesedauer: 7 Minuten
Helge Burggrabe. Im Kölner Dom haben im November 2019 mehr als 1000 Stimmen mitgesungen.

Helge Burggrabe. Im Kölner Dom haben im November 2019 mehr als 1000 Stimmen mitgesungen.

Foto: Kathrin Becker

Am Niederrhein.  Helge Burggrabe ist Komponist, Flötist und Erfinder der HAGIOS-Liederabende. Mitsingkonzerte für den Frieden gibt es nun in Xanten und Emmerich.

Ein Mitsing-Konzert für den Frieden soll es werden – ein gemeinsames Singen – ohne Proben, ohne großes Brimborium, ohne ausgebildete Stimmen – jeder kann kommen und mitsingen, sagt Helge Burggrabe. „Es gibt an diesem Abend keine falschen Töne.“ Der Komponist und Flötist kommt zum ersten Mal mit seinem „HAGIOS-Konzert“-Konzept an den Niederrhein – im Kölner Dom haben schon 1000 Stimmen mitgesungen, HAGIOS-Konzerte gab es auch in Frankfurt und Wien, in Zürich und Berlin. Und nun am Niederrhein. In Xanten am 29. April im Dom, einen Tag zuvor in Emmerich, in der St.-Aldegundis-Kirche.

Tach Herr Burggrabe, das klingt erst mal ein bisschen komisch – jeder kann kommen und mitsingen.

Aber es funktioniert! An diesen Abenden steht nicht die Perfektion, sondern die Freude am gemeinsamen Singen im Mittelpunkt. Mehr als 25.000 Mitsängerinnen und Mitsänger haben an den etwa 100 HAGIOS-Konzerten im deutschsprachigen Raum bisher mitgemacht. Jede und jeder ist willkommen.

Und das geht ganz ohne Proben?

Klar. Jedes Lied hat eine Hauptmelodie. Wir singen keine langen Arien. Die Texte sind kurz und werden öfter wiederholt, vergleichbar mit den Gesängen aus Taizé. Man kann schnell mitsingen. Aber auch nur Lauschen ist möglich, oder zwischendrin mitmachen und dann wieder zuhören, ruhig sein, inne halten, im Klang getragen sein.

Notenkenntnisse sind nicht wichtig – man kann über das „Ohr mitsingen“

Was verbirgt sich hinter der Idee „HAGIOS“?

HAGIOS ist ein altgriechisches Wort und steht für das Heilige, das „Nicht-Nennbare“, auf das letztlich alle Religionen ausgerichtet sind. Musik hat eine besondere Fähigkeit, Türen zu diesem „Heiligen“ zu öffnen. Man kann im Klang geborgen sein. HAGIOS ist auch gesungenes Gebet. Diese Liedernächte sind getragen von kontemplativer Stille und auch von kraftvollem, vielstimmigem Gesang. Mitbringen muss man eigentlich nur die Vorfreude auf das Erlebnis, gemeinsam mit vielen anderen Menschen die Kirche in einen großen Klangraum zu verwandeln. Gesungen werden schnell zu erlernende Kanons. Das schafft wirklich jede und jeder. Notenkenntnis ist nicht Voraussetzung, man kann auch „übers Ohr“ lernen und mitsingen.

Braucht es dazu eine Kirche, einen sakralen Raum?

Nun, ich denke, eine Kirche zaubert eine ganz besondere Atmosphäre, die Akustik ist eine besondere, das ganze Drumherum auch. Außerdem habe ich den Eindruck, dass heute bei der Gestaltung von Messen und Gottesdiensten die Partizipation der Gläubigen, also das Eingebundensein und Mitmachen, manchmal zu kurz kommt. Deshalb auch Mitsing-Konzert, eine aktive Teilnahme, ein Mitgestalten und damit auch eine tiefere Erfahrungsebene möglich machen, einen lebendigen Zugang zum Glauben anbieten – auch das ist mir wichtig. Das HAGIOS-Konzept bewegt sich zwischen Andacht und Konzert.

So ein bisschen erinnert mich das gerade an Gotthilf Fischer und seine Chöre.

Ja, die Intention, Menschen zusammenbringen und Frieden zu stiften ist vielleicht ähnlich, aber die Musikrichtung dann doch etwas anders.

Kann Musik Frieden stiften?

Über das gemeinsame Singen entsteht erstaunlich schnell Gemeinschaft, eine Art Geschwisterlichkeit, Vertrautheit. Das trägt und stärkt. Erst die Pandemie und dann der Krieg in der Ukraine – das schafft Verunsicherung und auch spaltende Tendenzen in der Gesellschaft. Man kann mit Singen nicht verhindern, dass Menschen aufeinander schießen und Bomben abwerfen. Aber ohne inneren Frieden wird es keinen äußeren Frieden geben – die Musik kann helfen, diesen inneren Frieden zu finden. Und es braucht Orte wie Kirchen, in denen sich Menschen stärken können, zur Ruhe kommen, innehalten. So kann eine innere Haltung der Friedfertigkeit entstehen, die dann eine ethische Konsequenz hat und das Denken, Sprechen und Handeln prägt.

Würden Sie sich als reinen Kirchenmusiker bezeichnen?

Nein. Mein jüngstes Projekt, „Human“, ist ein Orchesterstück, eine kreative Hommage an die Menschenrechte, das von Theatern und Orchestern aufgeführt und auch von Schulen in Projekttagen aufgegriffen werden kann.

Orchesterstück für die Menschenrechte

Die Premieren waren im Herbst 2021 in Theatern in Bremen und in Brüssel. Dieses Projekt hat einen politischen Ansatz ohne kirchlichen Kontext.

Es verzichtet zudem auf Sprache, im Mittelpunkt stehen Musik und Tanz als universelle Sprachen. Ich hoffe, dass „Human“ und das Thema Menschlichkeit gerade in diesen bewegten Zeiten Kreise zieht und im nächsten Jahr an vielen Orten umgesetzt wird, anlässlich des Jubiläums ‚75 Jahre Menschenrechte‘.

Da wundert es nicht, dass Sie auch ein Antikriegsstück komponiert haben.

Ja, 2015 entstand als Auftragswerk für das Bistum Hildesheim ein Oratorium für den Frieden, Lux in Tenebris (Licht in der Finsternis). Ein Stück über Krieg und Zerstörung und die Sehnsucht nach Frieden. Im Mittelpunkt steht das biblische Drama von Kain und Abel und die Frage, ob der Mensch im Gegenüber noch den Menschen sehen kann.

Das klingt nach viel Engagement, das man Ihrer Generation – zwischen den 68ern und den jungen Friday für Future-Aktiven – nicht so sehr nachsagt.

Es stimmt, ich bin Jahrgang `73 und in einem neuen Buch werden wir in der Tat als Generation der „Geschmeidigen“ bezeichnet, die sich eher anpassen und ins Private zurückziehen. Es ist so, wir hatten das Glück, in Frieden und Wohlstand aufwachsen zu können. Die jetzige Zeit erfordert auch von meiner Generation, Haltung zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen.

Hörprobe HAGIOS

Wäre die Welt besser, wenn wir alle singend durch den Tag gingen?

Man kann noch so viel Musik machen, noch so laut Menschenrechte einfordern – man wird keine wirkliche Überzeugungskraft haben oder tragfähige Argumente liefern können, wenn man selbst das friedenstiftende und menschenachtende Miteinander nicht vorlebt. Trotz allem Unfrieden und Dissens in der Gesellschaft dürfen wir den Menschen nicht aus den Augen verlieren, finde ich. Unterschiedliche Meinungen müssen und können wir aushalten, Unterschiedlichkeit ist ja nichts Schlimmes – wenn man den anderen dabei immer noch wertschätzt und achtet.

HAGIOS LIVESTREAM vom 22.05.2020 mit Helge Burggrabe, Irmgard Nauck, Elbcanto-Quartett

Nun am Niederrhein. Wie haben Sie uns entdeckt? – Sie sind ja in der Nähe von Bremen zu Hause.

Oh, ich mag einfach sehr den Humor und die Art von Hanns Dieter Hüsch, aber ich selbst war noch nie am Niederrhein. Mich hat die Kevelaerer Medizinerin Dr. Elke Kleuren-Schryvers angesprochen, die die „Aktion pro Humanität“ leitet und sich auch in der Friedensarbeit engagiert, ob ich nicht mal einen HAGIOS-Liederabend im Xantener Dom gestalten wolle. Klar wollte ich.

Friedenskonzert in Xanten

Das Motto des Friedenskonzertes wird der franziskanische Friedensgruß sein: „Pace e Bene“ (Friede und alles Gute). Der Eintritt ist frei, wir gestalten den Abend als Benefizkonzert, und die Spenden kommen dem Engagement der Stiftung Aktion pro Humanität zugute. Da ich auch von der katholischen Kirchengemeinde in Emmerich angefragt worden war, findet am Vorabend ein HAGIOS Mitsingkonzert in der dortigen St.-Aldegundis-Kirche statt. Ich freue mich sehr auf beide Konzerte am Niederrhein.

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