Moers. Ute Loewe (alias Luisa Lenkeit) erzählt die Lebensgeschichte ihrer Mutter – Flucht aus Ostpreußen, Krieg, Liebe und Neuanfang in Moers.
Es braucht Zeit, zu entdecken, wie wertvoll das Leben ist, wie tief Liebe wurzelt, was Familie und Kindheit, Partnerschaft und Glück, Wertschätzung und die eigene Geschichte an Bedeutung gewinnen, Kraft schenken und manchmal auch Gefühle ausbrechen lassen können, wenn man sie zulässt und wenn man sich aufmacht, sie zu entdecken.
Ute Loewe hat das getan, Stückchen für Stückchen hat sie die Geschichte ihrer Mutter aufgeschrieben, die im Schrecken des Zweiten Weltkrieges Hab und Gut, ihre Heimat und den ostpreußischen Gutshof aufgeben musste und in den Westen floh, ge- und vertrieben von der NS-Diktatur, eine Flucht ohne Besitz und voller Angst – ein Ankommen voller Not und Nichtwillkommensein. Eine Geschichte von Liebe und Zweifeln und auch von Lebensdankbarkeit und Nächstenliebe, Ankommen und stiller Zufriedenheit.
Ute Loewe hat die Geschichte ihrer Mutter mit ihrer eigenen zusammengefügt, ein Zwiegespräch, das Gestern und Heute verbindet – und eine ungewollte Aktualität erreicht. Ute Loewe, Moerser Zahnärztin im Ruhestand, hat die etwas andere Biografie unter Pseudonym veröffentlicht: „Wart auf mich, ich komm zurück“.
– „Wir lebten inmitten der idyllischen Natur. Ich sehe noch vor mir, die weiten wogenden Kornfelder, blühende Kamille, dazwischen unzählige Mohnblumen, bunte Frühlings-und Sommerblumen in den Vorgärten, Gänse auf der Straße, herrliche Alleen, stille Wälder und einsame kristallene Seen, dort in Dopönen, in Ostpreußen.“ –
Frau Loewe, Sie erzählen die bewegende Geschichte ihrer Mutter – einer beeindruckenden Frau, die trotz Krieg, Flucht und Schicksalsschlägen nie ihre Lebenslust verloren hat – warum haben Sie das aufgeschrieben?
Meine Mutter war eine sehr starke Persönlichkeit. Sie gehörte zur Kriegsgeneration, hat unglaublich viel erlebt – ich wollte einfach, dass ihre Erfahrungen, ihre Lebensweisheit und auch die erlebte Geschichte nicht verloren gehen.
Man kann so viel davon lernen – Zufriedenheit, nicht Besitz macht glücklich, nicht Hass, nicht Unzufriedenheit trägt. Das hat mir immer sehr imponiert. Anfangs wollte ich alles nur für uns als Familie aufschreiben – doch dann habe ich gespürt, dass das auch andere Menschen erreichen könnte.
Es wird als Biografie gelistet – aber es ist eigentlich ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Tochter, verquickt mit Ihrem eigenen Leben.
Es hat sich beim Schreiben so entwickelt. Und ich bin selbst überrascht, wie viel Parallelen unsere Leben haben – etwa in Sachen glücklicher und unglücklicher Partnerschaften. Meine Mutter hat nie aufgehört zu kämpfen, hat nie ihre Zuversicht verloren. Das ist eine wertvolle Lebenslinie für mich geworden.
– „Am 27. August 1939 wurde bekannt gegeben, dass ab sofort im ganzen Reich Bezugsscheine und Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Einen Tag zuvor hätte man noch alles einkaufen können, jetzt waren die Geschäfte geschlossen. Vom nächsten Tag an lebten wir nach einem streng geregelten Kartensystem. (...) Rote Karten für Brot, blaue für Fleisch, gelbe für Fett und Käse, grüne für Milch.“ –
Nun haben Sie Ihr Buch unter Pseudonym veröffentlicht, als Luisa Lenkeit.
Ich würde heute bei der Entscheidung vielleicht noch einmal nachdenken – aber ich war mir anfangs nicht sicher, ob Ute Loewe so viel Öffentlichkeit vertragen wollte. Lenkeit ist übrigens der Mädchenname meiner Mutter.
– „Seit Kriegsbeginn lagen die Orte wegen möglicher Luftangriffe in gespenstischer Dunkelheit, keine Straßenlaternen, nichts. Kein Licht aus den Häusern durfte nach außen dringen. Es gab Rollen mit schwarzem Papier zu kaufen, die über den Fenstern abgerollt wurden.“ –
Sie haben sich regelmäßig mit Ihrer Mutter zusammengesetzt und haben dann ihre Erzählungen notiert?
Ja, mit Block und Schreibstift. Immer so, wie meine freie Zeit es zuließ – ich hatte da zu dem Zeitpunkt noch meine Praxis. Meine Mutter wohnte gleich nebenan, ich musste nur ein paar Schritte durch den Garten gehen. Anfangs war sie skeptisch, doch dann entwickelte sie mehr und mehr Freude – und wir waren beide erstaunt, was da plötzlich an detailliertem Wissen wieder aus der Erinnerung hoch kam. Neben ihrer erzählten Geschichte entwickelte sich zwischen uns immer ein intensiver Gedankenaustausch über Liebe und Partnerschaft, über Glück und Schicksal. Viele Menschen sind heute unzufrieden und jammern – oft auf hohem Niveau.
Meine Mutter hat mir vorgelebt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – das rücksichtsvolle Miteinander, das Wertschätzen der Natur und auch der kleinen Dinge des Lebens. Das macht mich sehr dankbar.
– „Es schneite, und die Temperatur lag weit unter Null. Wegen der vielen Trecks war es schwer, voranzukommen (...) Die Mütter und Kinder saßen zwischen ihren Bündeln (...) immer wieder sahen wir Kinderwagen mit kleinen, steifgefrorenen Körpern am Straßenrand (...) – „Neben dem Weg über die Ostsee per Schiff bestand nur die Möglichkeit, über das gefrorene Haff auf die Frische Nehrung zu gelangen...“ –
Sie beschreiben schreckliche Dinge, Flucht und Vertreibung, Krieg und Morden – und dann finden sich auch wunderschön-poetische Naturbeschreibungen – und leicht-lockere Alltagsgeschichten…
Meine Mutter war ohne Zorn – das hat mich sehr bewegt. Es gab immer wieder Momente, in denen sie still wurde, in denen die Vergangenheit sie überwältigte. „Manchmal ist die Erinnerung schwer zu ertragen“, sagte sie dann. Auch negative Erlebnisse haben meine Mutter nicht verbittert, sie blieb zuversichtlich und lebensfroh.
Es ist mir wichtig, dass ihre Geschichte und ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Ich habe mich oft gefragt, wie man das schaffen kann, nur mit einem Rucksack auf dem Rücken seine Heimat verlassen zu müssen, voller Angst und Ungewissheit. Was darf, was würde ich mitnehmen? Wie würde ich das aushalten? Wäre ich in der Fremde willkommen?
– 1947. „Es ging alles gut, und wir kamen spät abends in Moers an.“ –
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