Dinslaken. Künstler Gunter Demnig verlegte in der Dinslaken 14 weitere Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus. Manche von ihnen waren noch Kinder.
Sie sind in etwa im gleichen Alter: die jungen Menschen, die ermordet wurden – und die Schüler der Ernst-Barlach-Gesamtschule, die jetzt im kalten Nieselregen dicht beieinander stehen und schweigend beobachten, wie der Künstler Gunter Demnig drei glänzende Stolpersteine in das Pflaster der Neustraße klopft. Im israelitischen Waisenhaus, das früher dort stand, wohnten die Zwillinge Ruth und Lieselotte Frohmann sowie Günther Nussbaum. Ruth und Lieselotte wurden wahrscheinlich in Auschwitz ermordet, Günther Nussbaum wurde mit 16 Jahren ins Warschauer Ghetto gebracht. Dort verliert sich seine Spur. Die ehemalige Klasse 10 der EBGS hat die Patenschaft für Ruth Frohmanns Stolperstein übernommen.
Fast wäre das Schicksal dieser Kinder vergessen worden, es gibt kaum Aufzeichnungen zu den Bewohnern des Waisenhauses, berichtet Anne Prior während der Verlegung. Die Vorsitzende des Vereins Stolpersteine hat die Lebensgeschichten der fast vergessenen Kinder soweit möglich recherchiert.
Die Kinder aus dem jüdischen Waisenhaus Dinslaken
Die Zwillinge Ruth und Lieselotte Frohmann wurden in Essen geboren, aber es „ist mir nicht gelungen, etwas über die Eltern herauszufinden“. Mit sechs Jahren kamen sie ins Waisenhaus in Dinslaken, mit 17 mussten sie es verlassen, kamen ins „Landwerk“ Steckelsdorf bei Rathenow. „Dort wurden junge Menschen auf ihre Emigration nach Palästina vorbereitet und landwirtschaftlich ausgebildet“, so Anne Prior. Aber nach Palästina kamen Ruth und Lieselotte nicht mehr. 1942 wurde das Heim geräumt „und die Kinder sehr wahrscheinlich nach Auschwitz deportiert“, sagt Anne Prior.
Aufzeichnungen dazu gibt es nicht. Auch im Gedenkbuch des Bundesarchivs waren die Zwillinge nicht aufgeführt. „Die Kinder waren verschwunden, sie waren nicht mehr existent“, bedauert die Forscherin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, die die Schicksale so vieler Dinslakener Juden recherchiert hat. Es sei nicht das erste Mal, dass Kinder aus dem Dinslakener Waisenhaus im Gedenkbuch des Bundesarchivs „nicht dokumentiert“ worden seien. Es hätten wahrscheinlich die entsprechenden Meldekarten gefehlt – „und es waren eben auch Waisen oder Halbwaisen. Wenn die Kinder ermordet wurden, gab es keine Eltern, Großeltern, Anverwandte“.
„Es tut richtig weh“
Auch bei Günther Nussbaum sei das so. „Es tut richtig weh, weil offenkundig nie jemand nachgefragt hat, was aus dem Jungen geworden ist“ , sagt Anne Prior. Der Junge, das hat sie herausgefunden, wurde in Halle als nicht-eheliches Kind geboren. Er hat zehn Jahre im Waisenhaus in Dinslaken gelebt und hat hier das November-Pogrom erleben müssen. Zwölf Jahre war er alt, als SS-Männer und Bürger das Waisenhaus verwüsteten, Fenster einschlugen und die verängstigten 32 Kinder des Waisenhauses durch die Neustraße trieben.
Günther muss eine Behinderung gehabt haben, berichtet Anne Prior, denn nach dem 10. November 1938 war er eine Zeit lang in Beelitz, in einem Heim für behinderte jüdische Kinder. Das Heim wurde geräumt, die Kinder wurden ins Warschauer Ghetto gebracht.
Die Schulklasse der EBGS, die sich im Rahmen des Projekts Nationalsozialismus und der Ausstellung „Gerettet auf Zeit“ über die Kindertransporte nach Belgien mit dem Thema beschäftigt hat, existiert als solche nicht mehr – manche sind in die Oberstufe, andere in die Ausbildung gewechselt – und ist nur für diesen Termin noch einmal zusammen gekommen.
Projekt und Ausstellung haben die Schüler tief beeindruckt. Sie sind sogar nach Köln gefahren und haben versucht, die Geschichten der Kinder, die vor den Nazis in vermeintliche Sicherheit nach Belgien gebracht wurden, nachzurecherchieren und eine Zeitzeugin dazu gehört. „Sie hat beschrieben, wie das so war und uns einen Einblick gegeben. Ich hatte Gänsehaut, als ich das gehört habe“, berichtet eine der Jugendlichen. Auch heute, bestätigen die Jugendlichen aus ihrer Erfahrung, gebe es Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Es sei deswegen wichtig, sagt die Lehrerin, „die Geschichte weiterzuerzählen“.
Weitere Stolpersteine wurden hier verlegt
Weitere Stolpersteine wurden an der Duisburger Str. 108 für Paul und Helene Skapowker verlegt. Er führte ein Möbelgeschäft und war der Mohel (Beschneider) der Jüdischen Gemeinde. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Heinrich, Siegfried, Martha, Hertha und Selma. Martha starb im Kindesalter in Dinslaken und wurde auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Selma und ihr Sohn Friedrich wurden nach Polen abgeschoben – sie gelten als verschollen. Siegfried Skapowker wurde 1942 in das Ghetto Piaski in Polen deportiert und gilt ebenfalls als „verschollen“. Paul Skapowker lebte teilweise auch im sogenannten „Judenhaus“ in Dinslaken an der Weseler Straße. 1941 kam er bei einem Unfall ums Leben. Helene Skapowker wurde am 21. Juli 1942 von Düsseldorf in das sogenannte „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert. Dort starb sie am 18. November 1942. Heinrich und Hertha überlebten den Holocaust.
An der Duisburger Str. 25 wurden Stolpersteine für Johanna und Moritz Scherbel verlegt. Die Familie führte an der Duisburger Straße 26 viele Jahre den „Riesenbazar Scherbel“. Ernst Scherbel verstarb in Dinslaken. Seine Frau wurde 1942 zuerst ins „Altersghetto“ Theresienstadt und dann ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt und ermordet.
An der Bahnstraße 15 verlegte Künstler Demnig sechs Stolpersteine für die Viehhändlerfamilie Cohen. Ihr Haus wurde am 10. November 1938 überfallen und angezündet. Die Familie floh nach Kanada. Heinz Cohen wurde als Pilot der kanadischen Royal Air Force in den letzten Kriegstagen über Berlin abgeschossen.
Dietrich Schlagregen wurde – wie berichtet – ein Opfer der NS-Patientenmorde. An ihn erinnert nun ein Stolperstein an der Dorfkirche Hiesfeld.
Hintergrund: Gedenktag für Opfer des Nationalsozialismus
Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. Deswegen wird am 27. Januar bundesweit der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen.
Der Verein Stolpersteine hat gemeinsam mit Künstler Gunter Demnig in Dinslaken bereits etwa 130 Stolpersteine verlegt. Die Orte und die Biografien der Opfer sind auf stolpersteine-dinslaken-ev.de zu finden.
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