Duisburg. Gerhild Tobergte, Leiterin des Duisburger Kinderschutzbundes, im NRZ-Interview über fehlende Perspektiven für Kinder und den Armutsbegriff.
Schlagzeilen aus diesem Jahr:
„Fast jedes dritte Kind in Duisburg ist auf Hartz IV angewiesen“
„Der DGB fordert ein Aktionsprogramm gegen Kinder- und Familienarmut“
„Die Mehrheit der Kinder, die in Deutschland in Armut leben, sind dauerhaft betroffen.“ (Studie Bertelsmannstiftung)“
„Immersatt schmiert drei Millionen Frühstücksbrote“
Schlagzeilen, die Gerhild Tobergte, Leiterin des Duisburger Kinderschutzbundes mit gemischten Gefühlen liest. „Natürlich gibt es eine finanzielle Not in vielen Familien“, weiß sie. Aber der Begriff Kinderarmut umfasse viel mehr als nur einen ökonomische Aspekt, sagt sie im NRZ-Interview zu Weihnachten.
Frau Tobergte: Was ist aus Ihrer Sicht Kinderarmut?
„Sicherlich, man kann die Armut bestimmten Lebensverhältnissen zuordnen: Langzeitarbeitslosigkeit, Alleinerziehende und kinderreiche Familie sind oft betroffen. Aber es ist eine unzulässige Verengung des Armutsbegriffs, wenn man ihn auf die ökonomische Seite fokussiert. Armut in der Gesellschaft ist viel mehr als nur wirtschaftliche Armut. Kinderarmut ist immer eine individuelle Armut. Und wenn wir nur versuchen die wirtschaftliche Armut in der Familie durch Finanzleistungen aufzufangen, ist es fraglich, ob das Geld bei Kindern ankommt. Es kann auch im nächsten Flachbildschirm landen oder sonst irgendwo. Das hat nichts mit Generalverdacht zu tun, sondern ist die Realität.
Wo ist Kinderarmut für Sie in Duisburg spürbar?
„In der Zuwendung, in der Motivation und im Interesse für das, was die Kinder machen. Mein erstes Bewusstsein von Armut in Duisburg, habe ich bekommen, als ich das erste Mal in meiner Funktion als Leiterin des Kinderschutzbundes mit einem Schulleiter gesprochen habe. Der sagte mir: Bis 9 Uhr kann ich mich mit den Kindern eigentlich nur unterhalten, ein Unterricht ist nicht möglich, weil sie erst bis dahin nach und nach kommen. Ich fragte erstaunt, warum er das denn nicht abstelle. Er sagte: Wenn ein siebenjähriges Kind morgens alleine aufsteht, seine Sachen nimmt und in die Schule kommt, während die Eltern schlafen, dann muss ich das Kind loben, dass es überhaupt zum Unterricht kam.
Da habe ich gedacht: Arme Kinder. Das hat nichts mit Finanzen zu tun, wenn Eltern nicht morgens aufstehen und ihre Kinder für die Schule fertig machen. Da geht unserer Gesellschaft ein Stück Seele verloren.“
Aber es gibt sicher auch positive Beispiele, oder?
„Ja, die haben wir im Kinderschutzbund auch erlebt: Eine Mutter sagte zu ihren Kindern: Guckt mal, wo ich heute stehe. Wollt Ihr das? Also, wenn Ihr das nicht wollte, setzt euch hin und lernt. Ein gutes Beispiel ist auch eine syrische Flüchtlingsfamilie mit sechs Kindern, die wir betreuen. Die ist arm. Nicht nur wirtschaftlich. Sie hat ihre Heimat verloren. Aber die Eltern sind hinterher, dass die Kinder was machen und lernen. Ein Kind geht auf das Steinbart-Gymnasium, drei Mädchen sind in unseren Gruppen.
Was fehlt armen Kindern am meisten?
„Oft die Wertschätzung in der Familie. Was wir unterschätzen ist, dass Familien in prekären Verhältnissen meist weit weg von der Schulkultur leben. Eine Grundschulleiterin sagte zu mir: ,Wir müssen schreien, damit die Kinder überhaupt merken, dass sie angesprochen werden, weil sie das von zu Hause gewöhnt sind’. Meinen Sie, wenn ich diesen Eltern Geld gebe, schreien sie die Kinder weniger an?“
Was läuft in Duisburg gut?
„Duisburg ist seit vielen Jahren gut aufgestellt. Und damit meine ich nicht nur das Netz, das vom Jugendamt gespannt wird. Es gibt ganz viele private Träger und Initiativen, Verbände und Vereine, die aus dem Bewusstsein heraus handeln, man muss etwas tun. Hilfen organisieren. Das darf man nicht vergessen. Gut ist, dass die Tagesmütter-Struktur sehr früh begleitend zur Kita ausgebaut wurde. Duisburg hat 45 Sozialarbeiter an Grundschulen und es gibt sehr viele niederschwellige Beratungsangebote für Familien.“
Angebote gibt es, aber werden sie auch genutzt?
„Ich möchte mit einem Beispiel antworten: Wir haben vor einigen Jahren eine Hausaufgaben- und Spielgruppe eingerichtet für Kinder von Alleinerziehenden, finanziert aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Viele Kinder kamen nicht. Mal hat es geregnet, dann wieder hatten die Mütter oder Väter keine Zeit, die Kinder zu bringen! Es hat sie nichts gekostet, aber wir bekamen die erforderliche Unterschrift unter den Antrag nicht. Woher soll so ein Kind die Motivation nehmen, Sachen zu machen, für die es den inneren Schweinehund überwinden muss, wenn die Eltern signalisieren: Es ist nicht wichtig. Am Ende haben wir das Projekt eingestellt. Das hat auch viele Ehrenamtler frustriert.
Wie können Eltern dazu bewegt werden, die Angebote zu nutzen?
„Ich denke, dass wir zu oft Angebote machen und zu wenig Verbindlichkeiten haben. Medizinische Vorsorgeuntersuchungen für Kinder müssten verpflichtend sein. Wenn die Eltern nicht ihrer Verpflichtung nachkommen, für die Gesundheit ihrer Kinder zu sorgen, kann ich nicht das Elternrecht über das Recht der Kinder stellen. Es gibt Punkte, da hat es keine Diskussion zu geben.“
Wie sieht die Hilfe des Kinderschutzbundes aus?
„Wir gehen dahin, wo es brennt und konzentrieren uns auf die Sprachförderung bei Grundschulkindern. Die Kinder können die sprachlichen Defizite nicht von sich aus ausgleichen. Die Sprache ist ihr Werkzeug. Wir befassen uns mit einer sehr überschaubaren Anzahl an Kindern. Natürlich kann man sagen, dass es ein Tropfen auf den heißen Stein sei, wenn sie einmal in der Woche mit unseren Sprachpaten spielen. Aber es ist nachhaltig.“
Wer benötigt die Sprachförderung?
„Früher waren es zumeist nur Migrantenkinder. Das ist längst nicht mehr so. Es sind auch Kinder deutscher Eltern. Die Sprachkompetenz, sich korrekt und differenziert auszudrücken, nimmt ab.“
Was könnte besser laufen?
„Ich würde mir einen Ausbau der Sozialarbeit wünschen. Sie sollte es bereits an Geburtskliniken geben. Das würde frühzeitig und gut ergänzen, was schon läuft. Das, was man jetzt für die Flüchtlinge mit dem Projekt „Fit für die Kita“ macht, das müssten alle haben. Aber das scheitert am Geld. Ich gehe konform mit Georg Cremer, dem ehemaligen Generalsekretär des deutschen Caritasverbandes, der sagt: Wir brauchen Befähigungsgerechtigkeit.“
Befähigungsgerechtigkeit?
„Ja. Kein Kind darf aufgrund der sozialen Lage, in die es hineingeboren wird, Hemmnisse haben, die ihm entgegenstehen, um Fähigkeiten zu entwickeln. Das muss ein Kernanliegen der Gesellschaft sein. Aber das schaffen wir nicht, indem wir die Familien nur mehr finanziell unterstützen, sondern wir müssen mehr Hilfsangebote stellen mit einer gewissen Verbindlichkeit und mehr Sozialarbeit.
Ein Aspekt der Armut ist die fehlende Perspektive. Ich will die Notwendigkeit von Geld nicht leugnen. Und natürlich darf kein Kind hungrig in der Schule sitzen. Aber man muss die Eltern in die Pflicht nehmen.“
Was würden Sie sich wünschen?
„Zum Beispiel, dass man grundsätzlich sagt: Der Eintritt für Kinder im Zoo, Museum oder Theater ist frei. Das wäre besser, als wenn man Geld in Familien gibt, die gar kein Interesse am Theater haben und meinen, Tiere können die Kinder auch im Fernsehen sehen.“
Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Wie siegt es das Jahr über aus?
Über das Jahr gesehen ist es schwierig. Aber zum Glück haben wir auch sehr treue Spender. Ein älterer Herr überweist uns quartalsweise wechselnde kleine Beträge. Dann sammeln viele bei Geburtstagen und Familienfesten Geld für den Kinderschutzbund statt Geschenke. Das sind tolle Situationen.
Was ist für die Kinder, die Sie im Kinderschutzbund betreuen, Weihnachten?
„Sie lernen, dass es ein Fest der Familie, der Liebe und des Friedens ist. Wir haben viele Kinder mit muslimischen Wurzeln und heiß diskutiert, wie wir mit Weihnachten umgehen. Einige Ehrenamtler haben gesagt: Nikolaus, das können wir doch nicht mehr feiern. Daraufhin habe ich gesagt: Warum nicht?
Wir wollen niemanden missionieren. Der Nikolaus ist eine absolut vorbildliche Figur im menschlichen Miteinander. Und diese Kinder sind zu uns gekommen, in unsere Kultur. Ich sehe nicht ein, dass wir die Feste umfunktionieren. St. Martin ist St. Martin und kein Lichterfest, Weihnachten ist Weihnachten. Was kann man da gegen haben?
Der Nikolaus als Symbolfigur ist etwas sehr greifbares. Die Kinder sehen ihn in jedem Supermarkt aus Schokolade. Und dann sollen wir ihn nicht feiern? Wenn wir nicht unsere Kultur wertschätzen, wie sollen die Menschen, die zu uns kommen, sie dann schätzen?
Was wünschen Sie den Kindern zu Weihnachten und für das neue Jahr?
Viele fröhliche Stunden, Freude in der Schule, Freundschaften und viel Zeit, die sie mit ihren Eltern verbringen können.
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