Katholische Kirche

Abschied von Hengsbach: Ein Kardinalfehler und seine Folgen

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NRZ-Redakteur Wolfgang Kintscher kommentiert den posthumen tiefen Fall des Kardinal Franz Hengsbach – und seine Folgen.

NRZ-Redakteur Wolfgang Kintscher kommentiert den posthumen tiefen Fall des Kardinal Franz Hengsbach – und seine Folgen.

Foto: NRZ

Essen.  Bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe will sich das Bistum von niemandem übertreffen lassen – und geht ein Tempo, das viele zurücklässt.

Und sie bewegt sich doch: diese katholische Kirche, die ja nicht weniger als 359 (!) Jahre brauchte, um einen wie Galileo Galilei zu rehabilitieren, jenen Gelehrten, der mit seiner Erkenntnis, dass die Erde sich um die Sonne drehe, einst ein neues Bild der Welt entwarf. Sie bewegt sich hie und da mittlerweile aber in einem so atemberaubenden Tempo weg von alter Arroganz und Allmachtsgehabe, dass einem fast die Sinne schwinden.

Gerade mal 165 Stunden vergingen von der ersten Mitteilung des Bistums Essen über Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Franz Hengsbach, bis ein Schrauber-Kommando von Frühaufstehern den gestern noch so gepriesenen Gründerbischof am Montagmorgen im Domhof vom Sockel holte. Es ist diese nie gekannte Geschwindigkeit einer auf Ewigkeits-Ansprüche abonnierten Kirche, die manchen irritiert – flankiert von einer lokalen Politik, die bereits nach 28 Stunden unwidersprochen zu dem Schluss kam, der Kardinal-Hengsbach-Platz müsse nun schleunigst umbenannt werden.

Dass Overbeck mit seiner Entscheidung richtig liegt – wir müssen alle dran glauben

Muss er? Ja, er MUSS. Dies jedenfalls hat Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck deutlich gemacht, der von „Fakten“ spricht, wo andere erst einmal nur Anschuldigungen sehen. Zwei an der Zahl, beide älter als ein halbes Jahrhundert. Overbeck erkennt gleichwohl „gravierende“ Vorfälle sexuellen Missbrauchs, wo die Schar der Beobachter sich in Ermangelung weiterer Details in der Fantasie ausmalen muss, was da wohl vorgefallen sein mag, dass man in dieser radikalen Form mit dem Gründerbischof bricht. Aus diesem Dilemma kommt Overbeck nicht heraus: auf der Basis geheim gehaltener Aussagen Entscheidungen zu treffen, die andere nicht nachvollziehen können. Dass er damit richtig liegt – wir müssen alle dran glauben.

Ganz augenscheinlich will sich die katholische Kirche, wollen sich dieses Bistum und dieser Bischof in ihrer Rigorosität, den Missbrauchs-Sumpf vergangener Tage trockenzulegen, von niemandem übertreffen lassen. Und tatsächlich hat die Kirche in Gänze und auch jene vor Ort ja viel Schuld auf sich geladen, hat sich jahrzehntelang rührend um die Täter in den eigenen Reihen gekümmert und sich einen Teufel um die Opfer geschert, hat systematisch verdrängt, vertuscht, verharmlost.

Ein paar Tage Bedenkzeit wären als wohltuende Zeit der Besinnung empfunden worden

Und scheint nun fest entschlossen, im Fall des mutmaßlichen Missbrauchs-Täter Franz Hengsbach in einem regelrechten Bildersturm demonstrative Wiedergutmachung leisten zu wollen. Es ist der Höhepunkt eines internen Reinigungsprozesses, der im Bistum Essen spürbar offensiver betrieben wird als in vielen anderen deutschen Diözesen. Vielleicht der letzte Versuch, für diese Kirche verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückzuerlangen. Um die muss selbst Ruhrbischof Overbeck ringen, weil er noch 2011 mehr oder weniger achselzuckend für erledigt hielt, was ihn heute so elektrisiert.

Hätte es eine andere Form der Aufarbeitung geben können? Eine, bei der sich die Gläubigen auf den Weg der Distanzierung von Hengsbach eher hätten „mitnehmen“ lassen? Vielleicht wären ein paar Tage mehr Bedenkzeit als wohltuende Zeit der Besinnung empfunden worden, vielleicht hätte es einen Mittelweg gegeben zwischen dem reflexartigen Befreiungsschlag in Tagesfrist und dem Vertrösten auf die nun geplante wissenschaftliche Aufarbeitung, die Monate dauern kann.

Nach dem Kardinalfehler ist das katholische Weltbild ein anderes als vorher

An zwei Fixpunkten aber käme man eh nie vorbei: Die Vorwürfe sind in der Welt, und der, den sie betreffen, ist seit 32 Jahren tot. Der Kardinalfehler, von dem jetzt alle ausgehen, wird weitere Folgen haben: Was wird aus dem Ehrenring der Stadt? Was aus dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, aus der Goldenen Palme von Jerusalem, Hengsbachs Ehrenbürgerschaften an diversen Unis, den Ehrendoktorwürden, und, ja, aus seiner Ehrenmitgliedschaft bei Schalke 04?

Was auch immer passiert: Das katholische Weltbild ist ein anderes als vorher. In Essen und weit darüber hinaus.

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