Am Niederrhein Was ist Heimat, fragt Niederrhein-Autor Paul Eßer. Gibt es eine spezielle Niederrhein-Psychologie? Und dann legt er los....
Das kennen Sie ja bestimmt auch: Will man den Niederrhein beschreiben, geht das ganz oft so: Niederrhein, das ist da, wo Himmel und Erde sich berühren, wo das flache Land den Himmel küsst, wo Kopfweiden und grasende Kühe grüßen, die Sonne golden gen Niederlande versinkt und Schiffsdiesel gemütlich über den Strom tuckern.
Wo der Nebel geboren wird und Hanns Dieter Hüsch unsterblich ist.
Und die Menschen: Naja, niederrheinisch eben, so eine Mischung aus bodenständiger Sturheit und leicht versteckter, fahrradfrohlockender Herzlichkeit. Na denn, willkommen im Klischee!
Wobei wir am Niederrhein ja selbst ein bisschen daran schuld sind, dass wir uns so ins platte Idyll verfrachten – als wenn da nicht auch noch Anderes wäre. Nun, einer, der immer einen dicken Hals bekommen hat, wenn so verklärt über seine Heimat schwadroniert wurde und der das flache Land am breiten Strom doch so sehr liebte, war Paul Eßer. Zahlreiche Bücher hat der gebürtige Mönchengladbacher geschrieben, immer wieder hat er sich mit dem Niederrhein beschäftigt.
Im August 2020 starb Paul Eßer im Alter von 81 Jahren – und er hat mit seinem letzten Buch, dessen Veröffentlichungs-Vorbereitungen er noch miterleben durfte, der Region und ihren Menschen eine Art Vermächtnis, einen Auftrag hinterlassen: „Warum sollte der Niederrheiner nicht (…) die Weite seines Landes und die Vielgestaltigkeit seiner historischen Entwicklung, die bunte Zusammensetzung seiner Bewohnerschaft als Einladung zu offenem Denken verstehen (…) warum sollte er nicht die Provinz von falschem Traditionsverständnis freimachen und als Gestaltungsfeld neuer Lebensformen begreifen?“
Der Niederrhein – Provinz?!
Oh, da ist dieses Wort, das in die Seele sticht: Provinz! Der Niederrhein - Provinz! Nunja, wer liebt, tut sich leichter mit schonungsloser Offenheit, und Paul Eßer hat sich sprachlich nie zurückgehalten. Mit spitzer Feder und scharfem Schwert macht er sich auf, dem Niederrhein und seinen Menschen ins Gemüt zu reden, manchmal erheitert das, manchmal verärgert es, manchmal tut‘s weh – und manchmal fühlt man sich ertappt, ihm doch tatsächlich zustimmen zu müssen. Der Titel seines letzten Werkes ist „Niederrheinmat“ - und es sind Aufsätze und Gedanken zwischen Pamphlet und Laudatio, Streitschrift und Liebeserklärung.
Sohn Torsten Eßer hat das Büchlein vollendet (Satz und Layout) und auf den Markt gebracht. Ein paar Texte sind schon etwas älter – sind mit ihren Grundaussagen aber dennoch ziemlich aktuell.
„Nicht Gott hat den Niederrheiner erschaffen sondern Hanns Dieter Hüsch. Der Niederrheiner – nichts anderes als ein schlau angelegter Publikumsliebling, in dem jeder leicht eigene Züge wiedererkennen kann“.
Und dann haut Paul Eßer uns auch noch den „Ridikülisierungseffekt“ um die Ohren.
Den Begriff hat seinerzeit ein Forscherteam der „Gesamthochschule Duisburg“ noch geprägt und besagt, so Eßer, dass die „Niederrheinmundart als solche schon einen komischen Effekt auslöst, also Gelächter verursacht.“ Irgendwie kommen der Niederrhein und seine Menschen bei Paul Eßer nicht so gut weg. Doch sein Vater habe nicht beleidigen oder ausschimpfen wollen, so Torsten Eßer. „Er wollte zum Nachdenken anregen, wollte bewusst provozieren, um Neues in Gang zu bringen.“
Bei all den niederrheinischen Überlegungen bezieht sich Eßer immer wieder auch auf andere Autoren, die das alles auch schon wussten, ahnten oder beschrieben: Hüsch, Böll, Enzensberger, Geuenich, Plönes, Diesterweg, Cornelissen. Und wir stellen eine ketzerische Paul Eßer-Frage mal in den Raum: „Gibt es jenseits des Kabaretts, jenseits der schönfärbenden Platitüden des Heimatkalenders und der Vernichtungsurteile selbsternannter Inlandsethnographen ein psychogrammatisch fassbares Wesen der niederrheinischen Art?“
Es gibt am Niederrhein kein regionales Identitätsbewusstsein
Antworten findet auch Paul Eßer nicht wirklich. Erklärungen schon. Nicht neu aber auch nicht abgearbeitet ist die abschließende Erkenntnis, dass „es am Niederrhein kein regionales Identitätsbewusstsein“ gibt.
Genau das aber, so Eßer, wäre doch die Chance für die „Bewohner dieses facettenreichen Kulturraumes“. „Warum nicht jenseits von Kirchturmdenken und Lokalpatriotismus, von Schollenromantik und Nivellierung durch großstädtische Normen neue Sinnorientierung suchen?“ Warum, so Eßer, „sollte der Niederrheiner nicht die Weite seines Landes und die Vielgestaltigkeit seiner historischen Entwicklung, die bunte Zusammensetzung seiner Bewohnerschaft als Einladung zu offenem Denken verstehen, zu kritischer Auseinandersetzung mit Neuem und Altem, zu Integration statt Abgrenzung?“
Paul Eßer, „Niederrheinmat“, Books on Demand, 2020, 140 Seiten, 17,90 Euro, E-Book 7,99 Euro.
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