Auf einer Wandertour in Thüringen denkt unser Kolumnist an seine Urgroßmutter Auguste - und ihre ganz persönliche Geschichte von der Flucht.
Da sitze ich also auf einer Wanderbank am Ende des Rennsteigs irgendwo in Thüringen, freue mich über die Sonne, die der Kälte endlich in den Hintern tritt, und ich denke an meine Urgroßmutter Auguste und an die kleine Stadt Siret an der rumänisch-ukrainischen Grenze. Ein Gedankenknäuel, das entsteht, wenn man gerade zwei so unterschiedliche Wochen hinter sich hat. Ich löse den Knoten mal.
Die letzte Woche war ich also mit meinem Schulkameraden Michael auf dem Rennsteig unterwegs. Wir kennen uns seit 50 Jahren, scherzen und streiten noch gerne. In Hörschel sind wir losgetippelt und schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass Mitte März ein eher dämlicher Termin für diesen Traditionsweg ist. Beim Anstieg auf den Großen Inselsberg schicken wir noch ein lustig gemeintes Foto vom „Restschnee“ in die Familien- und Freundesgruppen, zwei Stunden später schicken wir nur noch Flüche in den graugeschminkten Himmel, während wir wie Eiskraniche über das frostige Feld storcheln, immer in Angst vor dem nächsten Einbruch bis zum Knie und den möglichen Langzeitschäden an Bändern und Gelenken.
Mein privates Bild zur Flucht
Jetzt noch Schneegestöber. Wir holen Mütze und Handschuh aus dem Rucksack, schreiten dann durch die immer weißer werdende Welt und ich fange von Ostpreußen an und erzähle dem Kumpel die Geschichte von Auguste, meiner Uroma. Sie war damals etwas älter als wir jetzt, Ende 60, und sie weigerte sich zunächst, die Heimat zu verlassen, als die feindlichen Soldaten kamen. Die anderen Familienmitglieder flohen zeitig, nur sie blieb und mit ihr Tante Berta, ihre jüngste Tochter, die ihre Mutter dann auf einem Wägelchen durch den Winter Richtung Westen zog, als es schon zu spät war.
Die Soldaten holten sie ein. Über den Vorfall wurde in der Familie nur geraunt. Den beiden Frauen sei „das Schlimmste passiert“ hieß es, wenn wir Kinder am Tisch saßen. Später habe ich verstanden. Und ich hatte fortan ein Foto im Kopf, das nie gemacht wurde: Die Urgroßmutter auf dem Karren, den die junge Berta zieht. Mein ganz privates Bild zum Fluch der Flucht.
Schmerz um den Verlust der Vergangenheit wird bei den Flüchtlingen sichtbar
Eine Woche zuvor hatte ich das Bild wieder auf dem Schirm, in Siret an der rumänisch-ukrainischen Grenze. Für die Organisation „Hand in Hand mit der Ukraine“ hatten wir eine Tonne Hilfe angeliefert, später noch für 4000 Euro, die aus dem Stegreif von Freunden und Familie gesammelt worden waren, Lebensmittel für die Binnenflüchtlinge gekauft. Wir sind nicht allein gekommen. Der Kleinlaster neben uns bringt Medikamente aus Griechenland, im Supermarkt treffen wir zwei Amis, die mit dem Geld einer Freikirche Lebensmittelberge in Einkaufswagen errichten.
Auch direkt an der Grenze stehen dutzende Gruppen bereit zur ersten Hilfe. Die Flüchtlinge laufen geradezu in einen Airbag der Nächstenliebe, wenn sie Rumänien betreten. Und doch sind ihre Blicke vernebelt, vom Schmerz um den Verlust der Vergangenheit, von der Ungewissheit um die Zukunft. Mit zögerndem Schritt überqueren sie die Grenze. Da ist auch das Wägelchen wieder. Auguste sieht mich und hebt den Zeigefinger, während sie vorüberrumpelt. „Du Lorbass weißt ja wohl, was Du zu tun hast“, ruft sie mir zu. Sie ist dann schon zu weit weg, also sag ich es mehr zu mir selbst. „Aber sicher, Omma.“
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