Essen. 1952 wurde der 21-jährige Demonstrant Philipp Müller von der Polizei in Essen erschossen. Die genauen Umstände bleiben bis heute im Dunkeln.
Der Blick von oben muss beeindruckend gewesen sein: auf das Blüten- und Farbenmeer der erst am Vortag eröffneten Gruga, auf die langen Schlangen vor den zwölf Kassen, auf das Getümmel zehntausender Besucher, die sich gar nicht satt sehen konnten an der neuen Pracht. Oberbürgermeister Hans Toussaint hatte wohl noch die Worte von Landwirtschaftsminister Lübke vom „aufblühenden Essen” im Ohr, als er im Korb eines kugelrunden Wicküler-Ballons an jenem 11. Mai 1952 werbewirksam über die Gruga hinwegschwebte.
Wäre der OB nur etwas später in die Luft gegangen, ihm wären auch die Demonstranten an der Lührmannstraße nicht entgangen, die vielen Polizisten, das Krachen der Pistolenschüsse - und jener leblose Körper, der plötzlich auf dem alten Kirmesplatz zwischen Alfred- und Rüttenscheider Straße in seinem Blut lag. Es war der 21-jährige Philipp Müller aus München-Neuaubing, der an jenem „Blutsonntag” in Essen den Tod fand, tödlich verletzt durch eine Polizeikugel, die - das ergab später die Obduktion - seine Brust durchschlagen hatte und an einer tiefer liegenden Stelle im Rücken wieder ausgetreten war.
Philipp Müller blieb eine Fußnote in der deutschen Geschichte
Es war der Tod eines Demonstranten und weit mehr als das: Ein Politikum, das in jenen Tagen des Kalten Krieges von den Wortführern aller Lager propagandistisch ausgeweidet wurde: Den Kommunisten galt Müller fortan als Märtyrer der „friedensfeindlichen Politik Adenauers”, den westlichen Alliierten als Rädelsführer einer staatsfeindlichen Bewegung, die sich nicht scheute, mit aufrührerischer Gewalt den Staat herauszufordern.
Aber während der Name eines anderen Menschen, der bei einer Demonstration von der Polizei erschossen wurde, Benno Ohnesorg, am 2. Juni 1967, im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik gespeichert wurde, blieb Philipp Müller bloß eine Fußnote in der deutschen Geschichtsschreibung. Über die Gründe dafür kann genauso spekuliert werden, wie über den Tathergang damals.
Was wirklich geschah, an jenem 11. Mai vor 50 Jahren, bleibt bis heute weitgehend im Dunkeln. Fest steht, dass Philipp Müller zum Demonstrieren nach Essen gereist war: Sein Ziel war die so genannte „Jugendkarawane” gegen die anstehende Unterzeichnung des Generalvertrages mit den Westmächten und der Protest gegen die anstehende Militarisierung Deutschlands. Vom Gerlingplatz aus sollten die erwarteten rund 20.000 jungen Leute durch die Innenstadt ziehen, so hatte es der Dortmunder Theologe Arnold Haumann drei Tage vor dem Termin dem Ordnungsamt schriftlich gemeldet.
Mehr als 1000 junge Leute versammelten sich am Gruga-Eingang
Noch am gleichen Nachmittag berieten Stadt und Polizei darüber, wie sie mit dem Treffen umgehen sollten, nahmen am 9. Mai Rücksprache mit dem Land und kamen zu dem Ergebnis: Die "Jugendkarawane" wird aus Sorge vor einem "unfriedlichen Verlauf" verboten - schließlich war für den 11. Mai auch ein Europa-Kongress der Christlichen Arbeiter-Jugend geplant, das Eröffnungswochenende der Gruga nicht zu vergessen. Da man nicht auf die schnelle Verbreitung der Verbotsnachricht durch die Medien hoffen konnte, wurden anreisende Jugendliche an vielen Bundesstraßen abgefangen und einfach an der Weiterfahrt gehindert.
Dennoch erreichten am Sonntag zahlreiche Omnibusse mit Teilnehmern das Stadtgebiet. Und nun? Wie Stadthistoriker Ernst Schmidt bei Recherchen herausfand, verabredete man sich per Flüsterpropaganda zum Treffen vor dem Gruga-Eingang, der damals an der Lührmannstraße lag. Dort stand gegen 13 Uhr Arnold Haumann, später übrigens Pfarrer in Rüttenscheid, auf einem Lautsprecherwagen und warb um Ruhe und Ordnung und ein friedliche Rückkehr.
Rund 1000 bis 2000 junge Leute - für die Polizei ausschließlich Angehörige der Kommunistischen Partei, der verbotenen Freien Deutschen Jugend und deren Gesinnungsgenossen - bewegten sich auch nach der dritten Aufforderung nicht von der Stelle, sondern skandierten politische Losungen und Schmährufe gegen die Polizei.
Deeskalations-Taktik? Solche Begriffe kannte man damals noch nicht. Stattdessen griffen die Polizisten zu Schlagstöcken - und viele Demonstranten zu Steinen, Flaschen und Knüppeln. Dass aus dem Kreis der Kundgebungsteilnehmer – wie behauptet - geschossen wurde, konnte später nie belegt werden, diente aber stets als Beleg dafür, dass die Staatsmacht, die in ihren Reihen später 18 Verletzte zählte, „in Notwehr” selbst zur Waffe griff.
Verfahren gegen Essener Polizisten gab es nicht
Den Feuerbefehl nutzten nicht alle Polizeibeamten nur zu Warnschüssen in die Luft: Drei Jugendliche aus Kassel, Pinneberg und Münster erlitten zum Teil schwere Schussverletzungen, Philipp Müller starb auf dem Weg ins Krankenhaus Bis in die Nacht hinein galt in Essen der Alarmzustand, hielt die Polizei Plätze und ganze Straßenzüge besetzt. Und während Leserbriefschreiber der NRZ mal die eine, mal die andere Version der Ereignisse schilderten, bedauerte der Landtag „den Zwischenfall auf das tiefste”.
Nicht zuletzt auf Drängen der SPD sagte Ministerpräsident Karl Arnold damals zu, eine größere Anzahl von Wasserwerfern zu beschaffen, damit die Polizei im Ernstfall nicht gleich zur Waffe greifen müsse. Elf Demonstranten jenes 11 Mai wurden später zu kürzeren Gefängnisstrafen verurteilt. Dass viele der 108 Zeugenaussagen nach Recherchen von Ernst Schmidt im schroffen Widerspruch zu den Polizeischilderungen lagen, focht das Gericht nicht an: Sie hätten die Geschehnisse „mit einem starken Gefühl der Abneigung gegen die einschreitende Polizei” beobachtet.
Verfahren gegen die eingesetzten Polizeibeamten gab es nicht, weil diese, so der Essener Oberstaatsanwalt, in der bedrohlichen Situation durchaus angemessen gehandelt hätten. Zwei Wochen nach dem „Blutsonntag” gab es eine weitere Demo gegen den Generalvertrag. 5000 Demonstranten standen in Essen 1600 Polizisten gegenüber, ein aus Düsseldorf georderter Wasserwerfer stand bereit. Er kam nicht zum Einsatz.
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