Am Niederrhein. Vor 170 Jahren hängt der Physiker Léon Foucault sein Pendel in die Welt. Um Nachbau vom Niederrhein zu verstehen, braucht es Geduld.
Karl-Heinz Jungverdorben ist überrascht, als das Telefon bei ihm zuhause in Grefrath klingelt. Der 81-jährige Pensionär kann gar nicht glauben, das sich heutzutage noch jemand für „unser Foucault-Pendel“ interessiert. Aber ja doch! Schließlich wird das Original am 3. Januar 1851 in die Welt gehängt, also vor genau 170 Jahren. Grund genug, daran zu erinnern. Zum Beispiel anhand eines Nachbaues, der am Niederrhein steht: in einer Schule in Viersen.
Es beginnt in einem Keller in Paris
Der erste Versuch – missglückt. Drei Tage später, am 8. Januar 1851, gelingt es Jean Bernard Léon Foucault, die Drehung der Erde um die eigene Achse darzustellen. Der Physiker lässt eine Kugel an einer langen Schnur dicht über dem Boden pendeln. Die Bahnen der Schwingungen markiert er. Schon nach einiger Zeit beobachtet er, wie das fest installierte und gleichmäßig schwingende Pendel scheinbar ganz langsam seine Richtung ändert. Komisch.
Die Schwerkraft, die nur senkrecht wirkt, kann nicht die Ursache dafür sein. Und weil er sonstige äußere Einflüsse ausschließen kann, schlussfolgert der Wissenschaftler: Es ist nicht das Pendel, das seine Richtung ändert – sondern der Kellerboden bewegt sich, irgendwie. Das Haus jedoch steht fest auf dem Grund, also muss dieses Phänomen anders zu erklären sein. Für ihn ist es der Beweis: Die ganze Erde dreht sich um die eigene Achse.
Schon die alten Griechen lassen die Erde rotieren
Für naturwissenschaftliche Laien klingt das abenteuerlich. Doch die Vermutung einer Erdrotation geistert seit den alten Griechen durch die Welt. Der Astronom Aristarchos von Samos stellt im dritten Jahrhundert vor Christus diese Theorie auf. Bloß: Einen anschaulichen Beweis dafür bleibt er schuldig. Auch, weil die Bewegung der Erde für Menschen körperlich gar nicht zu spüren und gedanklich nur schwer zu begreifen ist. Hilfe bietet das Foucaultsche Pendel.
Wenn ein Foucault-Pendel schwingt, zieht es neugierige Blicke auf sich. Zum Beispiel seit 2018 in der Dominikanerkirche in Münster, wo eine Messingkugel vom weltteuersten Künstler Gerhard Richter eingefädelt ist. Oder unter der Kuppel im Panthéon in Paris. Hier zeigt Jean Foucault im März 1851 einem erstaunten Publikum sein Konstrukt: eine 28 Kilo-Kugel an einem 67-Meter-Seil. Spannend nachzulesen im Roman „Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco.
Das Foucaultsche Pendel in Viersen ist etwas Besonderes
Auch am Niederrhein ist ein Foucault-Pendel in Betrieb. Es steht unübersehbar im Foyer am Weiterbildungskolleg Linker Niederrhein in Viersen-Dülken. An der Schule können erwachsene Schüler auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur oder ihre Fachhochschulreife nachholen. Das Foucaultsche Pendel, merkt Direktor Joachim Vosen schmunzelnd an, gehört „zum Inventar.“ Die Konstruktion hinter Glas ist fest im Boden verschraubt.
Auf der Internetseite der Bildungseinrichtung wird das Foucault-Pendel unter dem Stichwort „Besonderes“ geführt. Zu Recht. Allzu viele Nachbauten gibt es davon gar nicht: im Deutschen Museum in München, im Technikmuseum in Berlin, an Universitäten in Heidelberg und Koblenz, am Niederrhein eben in Viersen. Vorbild dafür ist, verrät Karl-Heinz Jungverdorben, ein Foucaultsches Pendel an einem Gymnasium in Recklinghausen.
Das Ding in Dülken: kleines Werk, große Feinarbeit
1994 hat er die Idee für das Ding in Dülken, gemeinsam mit seinem Mathe- und Physik-Kollegen Karl-Hans van Ditzhuysen. Ihr Modell hängt hinter Glas, in einer Edelstahlpyramide mit vier spitzen Seitenfenstern. Darin schwingt eine Metallkugel an einem zwei Meter langen Draht, der in einem Charron-Ring eingefasst ist, damit das Pendel nicht taumelt. „Ohne die Hilfe von Werner Herwig, einem Mechaniker-Meister, hätten wir es nicht bauen können.“
Das kleine Werk ist größte Feinarbeit mit minimaler Technik: Eine Batterie, eine Spule, ein Elektromagnet sind notwendig, um einen Antrieb zu erzeugen, damit das Pendel dauerhaft und sauber seine elliptischen Kreise zieht, und nicht durch Reibung irgendwann auspendelt. Karl-Heinz Jungverdorben ist abermals überrascht: „Ich hätte nie gedacht, dass unsere Konstruktion solange hält. Offenbar gibt es keine Materialermüdung – toll!“
Bitte Geduld, am Niederrhein gehen die Uhren anders
Das Phänomen der Erdrotation wird sichtbar, weil die Kugel langsam aber stetig über eine kreisrunde Scheibe schwingt, auf der eine 360-Grad-Skala eingezeichnet ist. Ausgerechnet diese flache Scheibe stellt sozusagen die runde Erde dar, Kopernikus zum Trotz. Die Erde kreist bekanntlich innerhalb von 24 Stunden einmal rund um sich selbst. Jedoch: Am Niederrhein laufen die Uhren ebenso bekanntlich anders, in Dülken sowieso.
Viersen liegt ungefähr auf dem 51. Breitengrad. Ein Mathematiker, wie Herr Jungverdorben, errechnet daraus, dass an dieser Stelle die Winkelgeschwindigkeit 11,7 Grad pro Stunde beträgt. Somit dreht sich die Schwingebene des Pendels hier innerhalb eines Tages scheinbar nur um einen Winkel von 280,8 Grad. Eine Drehung um 360 Grad dauert demnach knapp 31 Stunden. Wer das Foucault-Pendel verstehen will, braucht also Geduld.
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