Gastbeitrag

Diese Jüdinnen wurden als letzte aus Dinslaken deportiert

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Anna und Karl Dümer lebten in so genannter „Mischehe“. Sie hatten in Dinslaken ein Möbelgeschäft. Anna Dümer wurde am 17. September 1944 verhaftet.

Anna und Karl Dümer lebten in so genannter „Mischehe“. Sie hatten in Dinslaken ein Möbelgeschäft. Anna Dümer wurde am 17. September 1944 verhaftet.

Foto: Privat

Dinslaken.  Am 17. September 1944 wurden die letzten Juden deportiert. Sie hatten in „Mischehe“ mit Christen gelebt. Was über ihr Schicksal bekannt ist.

Viele der ehemals in Dinslaken lebenden Juden waren bereits in den Ghettos ums Leben gekommen oder in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden, als am 17. September 1944 ein kleiner, noch in Dinslaken lebender Personenkreis verhaftet wurde: die mit Christen verheirateten Jüdinnen der Stadt. Neben Doris Lorenzen, geb. Frankenberg, waren dies Jeanette „Nelly“ Reinicke, geb. Rosenbaum und Anna Dümer, geb. Marcus. Über diese letzte Deportation der Juden aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf ist bislang kaum etwas bekannt.

Die Wissenschaft schätzt, dass es sich dabei um insgesamt etwa 250 Personen handelt. Doris Lorenzen gab nach dem Krieg an, dass sie zuvor im Juli 1942 mit Ehemann und Sohn in das „Judenhaus“ in der Weseler Straße zwangseingewiesen wurde. Sie hatte vorher wie Nelly Reinicke mit ihrer Familie in Dinslaken-Lohberg gewohnt.

Es ist bis heute nicht bekannt, wo Anna Dümer mit ihrem Ehemann Karl lebte, da weder in Dinslaken noch in Wesel, ihrem späteren Wohnsitz, Meldekarten auffindbar sind. Sicher ist, dass das Ehepaar in Dinslaken einige Jahre lang ein kleines Möbelgeschäft in der Wielandstraße führte. Die drei Frauen wurden am 17. September in Dinslaken verhaftet und gemeinsam nach Düsseldorf überstellt. Von dort gelangten sie zunächst in verschiedene Arbeitslager, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten.

Im „Altersghetto“ Theresienstadt herrschten katastrophale Zustände

Doris Lorenzen, Jeanette Reinicke und Anna Dümer wurden am 18. Februar 1945 von Frankfurt am Main aus in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert. Dort traf Doris Lorenzen auf ihre Tante Meta Krakauer aus Themar in Thüringen. In Theresienstadt herrschten katastrophale Zustände, dennoch gelang es den Deutschen, eine Abordnung des Roten Kreuzes im April 1945 noch einmal über die wahren Zustände im Lager zu täuschen.

Ab dem 20. April war das „Altersghetto“ Ziel zahlreicher Evakuierungstransporte aus den Konzentrationslagern und deren Außenlagern. Insgesamt wurden 141.000 Juden nach Theresienstadt deportiert, 118.000 von ihnen kamen entweder dort oder durch die von Theresienstadt ausgehenden Deportationen in die Vernichtungslager ums Leben. 23.000 Menschen überlebten.

Wie Hugo Jacob aus Dinslaken überlebte

Bemerkenswert ist das Überleben im Versteck von Hugo Jacob aus Dinslaken. Der Viehhändler war im Dezember 1939 mit seiner christlichen Ehefrau Henriette nach Essen verzogen. Auch er wurde mit seiner Ehefrau in ein „Judenhaus“ in Essen eingewiesen und sollte am 17. September 1944 verhaftet werden. Die Schwester von Henriette Jacob, Alwine, und deren Ehemann Johann Breuckmann versteckten ihn jedoch von September 1944 bis zum Einmarsch amerikanischer Truppen am 1. April 1945 in ihrer Wohnung in Recklinghausen.

Wie Hugo Jacob nach dem Krieg berichtete, verließ er sein Versteck in dieser Zeit für gelegentliche kleine Spaziergänge in der Dunkelheit. Er wagte es sogar, bei Angriffen alliierter Flieger einen Luftschutzraum aufzusuchen. Hugo Jacob ging ein hohes Risiko ein, entdeckt und damit verhaftet zu werden. Aber auch Alwine und Johann Breuckmann lebten in der ständigen Gefahr, dass ihr Schwager in ihrer Wohnung bemerkt wurde.

Nach dem Krieg kehrten die drei Frauen zurück

Insgesamt wurden 141.000 Juden nach Theresienstadt deportiert, 118.000 von ihnen kamen entweder dort oder durch die von Theresienstadt ausgehenden Deportationen in die Vernichtungslager ums Leben. 23.000 Menschen überlebten.

Nach der Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee im Mai 1945 kehrten die drei Frauen nach Dinslaken zurück. Alle gehörten ebenso wie der wieder in Dinslaken lebende Hugo Jacob der jüdischen Gemeinde Oberhausen an. Auch Meta Krakauer, die sich ihrer Nichte angeschossen hatte und bei ihr in Dinslaken wohnte, war ein Mitglied der Gemeinde. Diese zählte im Februar 1946 gerade einmal 32 Mitglieder, sechs von ihnen lebten im damaligen Landkreis Dinslaken.

Meta Krakauer verstarb im Jahr 1955 in Dinslaken und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Dinslaken bestattet. Hugo Jacob wanderte nach dem Tod seiner Ehefrau Henriette in die Niederlande aus und heiratete in zweiter Ehe Rifka Weinman. Zu einigen alten Nachbarn unterhielt er freundschaftliche Kontakte bis zu seinem Tod im Jahr 1988. Doris Lorenzen und Nelly Reinicke, beide waren nach dem Krieg selbständige Geschäftsfrauen in Lohberg gewesen, starben im Januar 1970 und wurden auf dem Kommunalfriedhof Dinslaken beigesetzt. Sie hatten inzwischen den christlichen Glauben ihrer Ehepartner angenommen.

Die letzte Dinslakenerin, die das „Altersghetto“ Theresienstadt überlebt hat

Anna Dümer, die ihr Textileinzelhandelsgeschäft am Rande der Dinslakener Innenstadt 17 Jahre lang geführt hatte, verstarb 1974. Mit ihr starb die letzte der vier Bürgerinnen Dinslakens, die das „Altersghetto“ Theresienstadt überlebt hatten.

>> Das ist Anne Prior

Anne Prior, die diesen Gastbeitrag für die NRZ verfasst hat, hat die Geschichte und das Schicksal der Dinslakener Juden aufgearbeitet. Sie hat mehrere Bücher dazu veröffentlicht – etwa zu den Kindertransporten nach Belgien („Geben Sie diese Kinder nicht auf!“). Dazu hat sie auch gemeinsam mit dem Gedenkort Jawne die Ausstellung „Gerettet auf Zeit“ konzipiert.

Sie gründete den Initiativkreis „Stolpersteine für Dinslaken“, aus dem im Jahr 2011 ein Verein wurde. 2012 verlegte der Künstler Gunter Demnig die ersten Stolpersteine in Dinslaken. Der Bundespräsident hat Anne Prior für ihre Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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